Die EZB sollte auf das Urteil nicht weiter reagieren
Das Urteil des Verfassungsgerichts über den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB wird hitzig diskutiert. Christian Odendahl meint: Die Karlsruher Richter sind zu weit gegangen und ihre ökonomischen Argumente sind dünn. Ein Selbstgespräch.
Jetzt haben wir es amtlich: Was die Europäische Zentralbank macht, der massenweise Ankauf von Staatsanleihen, ist illegal!
Einspruch! Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt.
Aber es hat doch geurteilt, dass die Bundesbank nicht mehr mitmachen darf, sollte die EZB nicht innerhalb von drei Monaten eine gute Begründung nachliefern.
Das stimmt, das Verfassungsgericht moniert, dass weder die EZB noch der EuGH in seinem Urteil dazu eine angemessene Verhältnismäßigkeitsprüfung gemacht habe. Was, unter uns, ziemlicher Unsinn ist, denn die EZB macht den lieben langen Tag nichts anderes, als sich über alle möglichen Effekte ihrer Politik Gedanken zu machen.
Verfassungsrichter Peter Huber sagte in der FAZ, das Urteil sei zwingend gewesen.
Hier möchte ich dem Bundesverfassungsgericht danken, denn es hat vor allem gezeigt, dass sich JuristInnen noch weniger einig sind als ÖkonomInnen, das aber sprachlich noch schöner verpacken. Die Passagen, wo die deutschen Richter ihren europäischen Kollegen im Prinzip Unfähigkeit attestieren, hatte großes Popcornpotential. Dagegen sind ÖkonomInnendispute eine harmonische Familienfeier.
Wer darf denn nun über die EZB entscheiden? Ich bin ehrlich gesagt verwirrt.
Runtergebrochen für ÖkonomInnen wie uns ist der juristische Disput folgender: Die nationalen Verfassungen verankern nationale Demokratie, unveränderlich. In der EU gibt es EU-Recht (aber keine Verfassung), das am besten von einem Gerichtshof – dem EuGH – ausgelegt wird und nicht von 27 verschiedenen Gerichten. So weit, so klar. Was aber passiert, wenn EU-Organe ihre Kompetenzen strukturell und offensichtlich überschreiten? Das Verfassungsgericht sagt: Dann dürfen und müssen wir, zum Schutz des Grundgesetzes, einschreiten – aber nur, nachdem wir den EuGH gefragt haben.
Aber genau das hat das Verfassungsgericht doch gemacht, und der EuGH hat gesagt: Das Kaufprogramm der EZB ist mit EU-Recht vereinbar.
Genau. Daher musste Karlsruhe nun den EuGH selbst noch aus dem Weg räumen, und hier wird es etwas wild. Der EuGH habe „objektiv willkürlich“ geurteilt, sagt Karlsruhe. Wie gesagt: Popcorn.
Das hieße aber dann, der EuGH ist gar nicht mehr die letzte Instanz zum europäischen Recht.
Victor Orban in Ungarn gefällt das. Es ist schon klar, dass die EU in den nationalen Demokratien und Verfassungen verankert sein muss. Aber es ist schon sehr merkwürdig, wenn nun ausgerechnet eine politisch unabhängige Zentralbank, die zudem als wirklich eigenständige europäische Institution exklusive Kompetenzen bezüglich Geldpolitik hat, als Exempel herhalten soll auf Basis einer, nun ja, kreativen ökonomischen Argumentation.
Und jetzt?
Ich glaube, das Verfassungsgericht weiß mittlerweile, dass es zu weit gegangen ist. Die Interviews, mit denen Richter Huber in der FAZ und der SZ das Urteil versuchte zu verteidigen – nicht sehr überzeugend – zeigen das recht klar. Und ökonomisch ist es weiterhin ziemlich dünn, was das Verfassungsgericht gegen die EZB vorbringt.
Das Gericht sagt: Die EZB muss die Nebenwirkungen ihrer Geldpolitik einbeziehen und bewerten. Und diese Nebenwirkungen sollen keine höheren Kosten haben als die Geldpolitik selbst der Wirtschaft und den Menschen nutzt. Das ist doch eine ökonomisch angemessene Forderung.
Die Idee ist völlig in Ordnung, die Umsetzung aber laienhaft. Und einseitig. Als sachkundige Dritte im Verfahren wurden zum Beispiel nur einschlägig konservative Ökonomen befragt – die sich aber zugunsten der EZB und ihrer Mandatsauslegung äußerten, auch wenn sie das Kaufprogramm inhaltlich kritisierten. Dazu kamen Vertreter von Banken (die eher nicht objektiv sind, da es um ihre eigenen Interessen geht), der Bundesbank und der deutschen Finanzagentur, die für den Staat Anleihen begibt. Alles Männer, natürlich, wir sind schließlich in Deutschland. Die vom Gericht zitierten ökonomischen Quellen sind teilweise etwas obskur, jedenfalls keine ausgewogene Auswahl der Standardwerke der neueren ökonomischen Literatur zu den relevanten Fragen.
Die Sparer waren nicht mit am Tisch?
Gutes Beispiel. Die Sparer selbst wurden nicht gehört, wohl aber die Banken. Doch ist der Fokus auf die Sparer als angeblich Leidtragende unsinnig. Denn niemand ist Sparer allein. Man ist gleichzeitig noch SteuerzahlerIn (der/die von niedrigen Zinsen profitiert), ArbeitnehmerIn (der/die von einer besseren Konjunktur profitiert, über geringere Arbeitslosigkeit und höhere Löhne) und so weiter. Diese Effekte hat die EZB natürlich alle analysiert, schon allein weil jeder Effekt und Nebeneffekt von Geldpolitik ein möglicher Transmissionsmechanismus ist, über den Geldpolitik wirkt.
Und was ist das Ergebnis?
Die Forschung dazu füllt mehrere digitale Billy-Regale, weil es extrem komplex ist herauszufinden, wie Geldpolitik wirkt. Denn dafür müsste man ja die Parallelwelt kennen – das counterfactual – in dem die EZB anders agiert. Da man diese Parallelwelt nicht kennt, muss man sie simulieren. Das Resultat liest sich für die meisten wie ein griechischer Buchstabensalat. Es gibt aber eine Zusammenfassung der Geldpolitik der EZB der letzten 20 Jahre, die das Bundesverfassungsgericht mit Sicherheit unter dem Kopfkissen liegen hat. Leider hat die auch 340 Seiten.
Geht’s auch kürzer?
In einem Satz: Arbeitslosigkeit hat die höchsten Kosten. Etwas länger: Geldpolitik muss versuchen, für Preisstabilität zu sorgen, was praktisch ca. zwei Prozent Inflation bedeutet. Abweichungen in beide Richtungen sind schädlich. Der Hauptgrund, warum Abweichungen nach unten schädlich sind, ist, dass es eine Unterkühlung der Wirtschaft anzeigt. Das bedeutet höhere Arbeitslosigkeit und niedrigere Löhne. Dagegen verblassen die Nebenwirkungen der Geldpolitik.
Aber die Nebenwirkungen muss die EZB trotzdem miteinbeziehen.
Eigentlich muss die EZB diese nur auf zwei Arten miteinbeziehen. Erstens insofern als sie die Transmission von Geldpolitik verändern. Also zum Beispiel wenn eine Nebenwirkung die eigentlich positiven Effekte eines geldpolitischen Stimulus konterkariert. Und zweitens, wenn sie verschiedene Optionen der Geldpolitik gegeneinander abwägt, dann sollte sie die mit geringeren Nebenwirkungen bevorzugen. Aber ihr Mandat ist Preisstabilität, dem ist sie zuerst verpflichtet. Und da scheitert die EZB seit Jahren: Die Inflation ist viel zu niedrig. Wenn überhaupt hat die EZB zu wenig als zu viel gemacht.
Wenn das so ist, dann ginge das Urteil ja völlig in die falsche Richtung.
Eben. Die EZB müsste wenn überhaupt dafür gerügt werden, dass sie ihr Mandat nicht erfüllt und ihr Preisziel nun schon seit Jahren (und vermutlich auf Jahre hinaus) verfehlt, mit hohen Kosten für ArbeitnehmerInnen und Arbeitslose. Und es wird noch besser. Deutschland bestand und besteht darauf, dass die EZB politisch unabhängig ist und ihren einzigen Fokus auf Preisstabilität setzt. Und nun besteht ausgerechnet das höchste deutsche Gericht darauf, dass die Bundesregierung und der Bundestag bei der eigentlich unabhängigen EZB intervenieren, damit die EZB die Auswirkungen der Geldpolitik auf andere Aspekte als auf Preisstabilität stärker gewichtet. Wenn man zynisch ist, würde man sagen: Preisstabilität und Unabhängigkeit sind Deutschland nur so lange wichtig, so lange es deutschen Interessen dient.
Jetzt hör aber auf!
Ist ja gut. Aber trotzdem meine ich: Die EZB sollte auf das Urteil nicht weiter reagieren. Wenn die Bundesbank am Ende nicht mehr an Anleihenkäufen teilnehmen darf, passiert eigentlich nicht viel. Die EZB könnte einfach selbst Bundesanleihen kaufen, statt der Bundesbank, der Euro existierte weiter. Nur würde in Deutschland dann vielleicht endlich mal vernünftig und ehrlich über Geldpolitik und die EZB diskutiert.
Christian Odendahl ist Chefvolkswirt des Londoner Centre for European Reform (CER).