Was Theresa May nicht gesagt hat - aber ansprechen muss
Die britische Premierministerin Theresa May hat in ihrer Lancaster House Rede die zwölf Ziele der Briten in den kommenden Brexit Verhandlungen vorgestellt. Wer ihr in den vergangenen Jahren zugehört hat, und die politischen Leitplanken kennt, die EU-Gegner über Jahre in London eingezogen haben, wird sich über den Inhalt wenig gewundert haben. Auch ist es verständlich, dass die Briten zunächst Ziele vorgeben, die über dem liegen, was sie in den Verhandlungen realistisch werden erreichen können. Doch May wird nicht erfolgreich sein, wenn sie sich weiterhin weigert, die schwierigen Debatten rund um den Brexit in ihrem eigenen Land zu führen.
Die Briten haben am 23. Juni letzten Jahres vor allem gegen drei Dinge gestimmt: unbeschränkte Zuwanderung aus der EU, Unterwerfung unter EU-Regularien und Gerichtsbarkeit sowie regelmäßige Nettozahlungen in den EU-Haushalt. Theresa May hat nun klar gemacht, dass sie sich an diesem Dreiklang orientieren wird und statt einer Mitgliedschaft im Binnenmarkt ein weit reichendes Freihandelsabkommen ohne EU-Zuwanderung und ohne Zahlungen in den EU-Haushalt anstrebt. Es entstand der Eindruck, als sei nun von britischer Seite alles gesagt, und der Spielball nun in der Hälfte der EU.
Doch so einfach ist es nicht. Die Briten müssen zu Hause noch einige schwierige Debatten führen. Die erste Debatte muss sich um das Wesen von Handelsabkommen im 21. Jahrhundert drehen. Viele Brexit-Freunde und auch May äußern sich so, als habe es die Debatte um TTIP und den damit möglicherweise einhergehenden Verlust von demokratischer Mitbestimmung nie gegeben. Stattdessen machen sie den Eindruck, als seien die Zölle zwischen den britischen Inseln und dem europäischen Kontinent das Problem. Moderne Handelsverträge sollen aber vor allem nicht-tarifäre Handelshemmnisse beseitigen, wie zum Beispiel Standards und Produktregulierungen harmonisieren, den Marktzugang für Unternehmen erleichtern, auch im stark regulierten Dienstleistungsmarkt, und wirtschaftliche Diskriminierung verhindern. Denn in globalen Produktionsnetzwerken und Lieferketten sind solche Themen mindestens so wichtig wie Zölle. Das aber bedeutet, dass Staaten politisch zusammenarbeiten müssen, gemeinsame Regeln und Institutionen schaffen müssen, denn die meisten nicht-tarifären Handelshemmnisse berühren zutiefst politische Fragen. Die bittere Ironie ist, dass die EU ein Versuch ist, vielleicht der beste jemals, um die gemeinsame Beantwortung solcher Fragen zu ermöglichen. Wenn die Briten wirklich ein "umfassendes, mutiges und ambitioniertes" Freihandelsabkommen möchten, wie May sagt, werden sie zunächst entscheiden müssen, wie tief sie bereit sind, politisch mit anderen zusammen zu arbeiten.
Die zweite Debatte ist die um die Zuwanderung. Die liberalen Brexit-Befürworter haben in der Vergangenheit einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: Da sie den Brexit wollten, es dafür aber keine Mehrheit gab, mussten sie sich mit den Einwanderungsgegnern der Rechtsaußenpartei Ukip zusammen tun. Dadurch ist die britische Debatte über EU-Zuwanderung völlig aus dem Ruder gelaufen. Doch nun ist die Gelegenheit gekommen, der Brexit ist erreicht, nun könnte und müsste der Pakt gelöst werden. Denn wenn Großbritannien auf der vollen Kontrolle über die Zuwanderung aus der EU besteht, könnte das Freihandelsabkommen sehr viel weniger weitreichend ausfallen, als es die britische Wirtschaft gerne hätte. Einen entspannteren, rationaleren Umgang mit EU-Zuwanderung müssen die Briten sich aber erst wieder erarbeiten.
Die letzte Debatte ist jene über die britische Rolle in Europa. Die Briten haben zum Beispiel die Osterweiterung der EU mit Nachdruck betrieben, wissend dass die EU eine große Anziehungskraft und Bindewirkung in Mittel- und Osteuropa ausüben kann, und den Kontinent stabilisiert. Nur weil sich die Briten aus innenpolitischen Gründen vom europäischen Projekt zurückziehen, werden Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien sie nicht aus ihrer Verantwortung für ein stabiles, wohlhabendes und sicheres Europa entlassen. May hat angedeutet, dass sich Großbritannien dessen bewusst ist. Neben der Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung, wie die Fortführung von militärischer Unterstützung für das Baltikum, gehören auch finanzielle Ressourcen dazu, was für May ein politisches Problem werden könnte. Umso wichtiger ist eine Debatte darüber, was die Briten bereit sind anzubieten.
Diese Debatten zu führen, wäre unter anderem Mays Aufgabe. Doch anstatt sie in ihrer Rede zumindest vorzubereiten, legte May eine Wunschliste vor und kündigte an, von nun an keine Wasserstandsmeldungen mehr abgeben zu wollen. Vor allem drohte sie zwischen den Zeilen, dass Großbritannien sich andere Optionen, etwa massive Unternehmenssteuersenkungen, vorbehalte, sollten sich die EU 27 nicht „fair“ verhalten und die Briten bestrafen wollen. Die Brexit-Verhandlungen werden alles andere als einfach.