Warum der Draghi- Bericht eine Riesenchance für Deutschland ist

Opinion piece (Handelsblatt)
Sander Tordoir Bluesky, Lucas Guttenberg, Nils Redeker
17 September 2024

Die Bundesrepublik steht im Zentrum der Krise. Draghis Analyse ist vor allem für uns ein Angebot, die Probleme im EU-Konzert zu lösen. Von Lucas Guttenberg, Nils Redeker und Sander Tordoir.

Mario Draghi bekam im Herbst 2023 einen Auftrag: Finde heraus, warum Europas Wirtschaft immer schlechter dasteht. Ein Jahr später hat er auf knapp 400 Seiten das Ergebnis seiner Suche präsentiert: mangelnde Produktivität, kaum Innovation, Fachkräftemangel, hohe Energiepreise, brutale Konkurrenz auf den Weltmärkten. 

Dazu die Mammutaufgaben Dekarbonisierung und Abbau gefährlicher Abhängigkeiten. Und obendrauf ein wirtschaftspolitischer Wirrwarr ohne echte Strategie.

Klingt bekannt für deutsche Ohren? Das ist kein Zufall. Anders als in der Euro-Krise sind wir heute im Zentrum des Sturms.

Seit 2019 hat die deutsche Wirtschaft praktisch nicht mehr zugelegt, die Industrieproduktion geht noch schneller zurück als im Rest der Euro-Zone, und das Produktivitätswachstum lag zuletzt unter dem EU-Durchschnitt. Zudem leidet kein anderes EU-Land so darunter, dass China mit Macht und Staatsgeld in die Kernsektoren seines Wirtschaftsmodells drängt. 

Draghis Bericht bietet jedoch nicht nur eine erfrischend schonungslose Analyse. Er ist ein Angebot insbesondere an Deutschland, die Probleme im europäischen Konzert zu lösen. Um das zu verstehen, muss man den Bericht allerdings lesen und nicht nur mit Strg-F nach dem Wort Verschuldung suchen.

Europa muss Zukunftsbranchen definieren und gezielt fördern

Liest man also, findet man vor allem zwei Vorschläge: Erstens argumentiert Draghi, dass sich die Rahmenbedingungen für Europas Unternehmen radikal verbessern müssen. Günstigere Energie (ja, auch mit Atomkraft), eine ambitionierte Kapitalmarktunion, ernster Bürokratieabbau, besserer Zugang zu Fachkräften. Deutsche Unternehmen fordern all das seit Jahren. Draghi hat es jetzt im Detail ausgearbeitet.

Zweitens schlägt der Bericht eine industriepolitische Strategie für die EU vor, die ihren Namen verdient. Und auch damit hat er recht. Denn natürlich findet Industriepolitik in Europa längst statt. 

Eine Strategie aber fehlt: Mal lassen Mitgliedstaaten ein Unternehmen pleitegehen, mal nicht. Mal unterstützten sie die Umstellungen auf Klimaneutralität regulatorisch, mal nicht. Mal schützt man heimische Produktion durch Zölle und Standards, dann wieder lässt man den globalen Wettbewerb walten.

Dazu beschließt die EU noch Regulierung um Regulierung, die oft nicht zum nationalen Handeln passt. Das Ergebnis ist ein teurer und ineffizienter Wildwuchs, der zudem nicht zu politischer Verlässlichkeit führt, das Verbrenner-Aus lässt grüßen. Wer da Investitionsentscheidungen für die nächsten 30 Jahre treffen muss, ist nicht zu beneiden – und wird im Zweifel abwarten oder abwandern.

Zur Lösung dieses Zustands fordert Draghi: Entscheidet euch. Europa müsse sich endlich darauf einigen, in welchen Sektoren man den Markt regeln wolle und damit auch völlige Abwanderung zulasse und wo man, aus verschiedenen Gründen, Produktion in Europa halten und neu aufbauen wolle. Dieser Entscheidung müssten dann konkrete Taten folgen – regulatorisch wie förderpolitisch. 

Wer jetzt aktiv mitgestaltet, kann viel erreichen 

Das trifft den Nagel auf den Kopf: Gelänge dies, würde vor allem Deutschland viel gewinnen. Die Wirtschaft bekäme Planungssicherheit und einen großen Binnenmarkt, in dem die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Hebel konsequent in dieselbe Richtung ziehen.

Nicht einmal rein finanziell wäre das für Deutschland ein Verlustgeschäft: Wenn man sich beispielsweise anschaut, wohin die EU-Fördergelder im Forschungsprogramm Horizon Europe fließen, dann schneidet Deutschland weit überdurchschnittlich ab. Gäbe es ein relevant großes europäisches Förderprogramm etwa zur Dekarbonisierung der Industrie oder zum Aufbau von Chipproduktion, würden die Gelder nicht nach Sofia oder Salerno fließen, sondern nach München und Magdeburg.

Wenn Deutschland seine Probleme mit und nicht gegen Europa lösen möchte, könnte eine selbstbewusste Position zum Bericht so aussehen: Lasst uns Draghi beim

Wort nehmen und all die Verbesserungen der Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen schnell angehen.

Lasst uns entscheiden, welche Sektoren aus welchen Gründen unsere Unterstützung verdient haben – und dann die ganze Kraft des Kontinents hinter diese Entscheidung packen.

Lasst uns sicherstellen, dass Industriepolitik kein verkapptes Umverteilungsprogramm ist, sondern Produktion dort stattfindet, wo es wirtschaftlich am sinnvollsten ist. Und wenn wir uns auf all das geeinigt haben, können wir auch über Geld reden. Aber eben erst dann. 

Wer sich dieser Diskussion verweigert, weil er in ein paar Jahren neue EU-Schulden fürchtet, lässt eine Riesenchance für die deutsche Wirtschaft fahren. Wer jetzt aktiv mitgestaltet, kann viel erreichen – und am Ende immer noch Nein sagen, wenn das Ergebnis nicht stimmt. Eigentlich keine schwere Entscheidung.

Lucas Guttenberg ist Senior Advisor der Bertelsmann-Stiftung.

Nils Redeker ist stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centre.

Sander Tordoir ist Chefökonom des Centre for European Reform