Warum das Brexit-Theater weiter geht (sorry)
Die Neuwahl in Großbritannien wird Klarheit im Brexit-Drama bringen. Wirklich? Ein Wahlsieg für Boris Johnson ist keineswegs ausgemacht - und selbst wenn, das Ringen um den EU-Austritt wird weitergehen. Ein Selbstgespräch von Christian Odendahl.
Darf ich ehrlich sein? Das Thema Brexit nervt mich dermaßen, dass ich froh bin, wenn es Ende Januar endlich vorbei ist.
Da habe ich schlechte Neuigkeiten. Denn der Brexit geht völlig unabhängig von der Wahl in Großbritannien weiter. Was wir bisher haben, ist nur eine Vereinbarung, wie die EU-27 und die Briten sich trennen wollen. Nicht aber, wie sie in Zukunft zusammenarbeiten wollen.
Ja gut, aber nachdem Johnson die Wahl gewonnen hat, kann er sein anvisiertes Freihandelsabkommen ja zügig verhandeln.
Niemand geht davon aus, dass das bis Ende 2020 möglich ist, und da würde nach derzeitigem Stand der Verhandlungen die Übergangsphase enden. Das Ganze bleibt uns also länger erhalten. Zudem redet Johnson zwar mit viel Pathos von einem Freihandelsabkommen, aber er will so viel Unabhängigkeit von der EU wie möglich.
Natürlich, das ist ja der Sinn der Sache.
Das heißt aber, es wird ein sehr rudimentäres Abkommen, was der Wirtschaft schadet, und so geht die Diskussion von vorne los. Sagen wir mal so: Ein rudimentäres Freihandelsabkommen heißt an der Grenze nicht freier Handel. Sondern es heißt: das allermeiste so wie unter WTO-Regeln, mit der Option Zollfreiheit zu beantragen. Die meisten Teilnehmer der Diskussion, Ökonominnen und Ökonomen eingeschlossen, haben wenig Vorstellung davon, wie es konkret an der Grenze zugeht.
Aber die Briten sind Ende Januar erst mal raus, das ist doch schon mal was.
Dafür müsste Boris Johnson die Wahl gewinnen.
Die Konservativen führen in den Umfragen haushoch vor Labour, mit 37 Prozent zu 25 Prozent.
Das erinnert mich an die haushohe Führung der Konservativen als Theresa May im Frühjahr 2017 eine Wahl ankündigte, damals sogar 42 zu 25 Prozent gegenüber Labour. Das Ende ist bekannt: statt ihre Mehrheit im Parlament auszubauen, verlor sie Sitze und musste eine Minderheitsregierung unter Tolerierung durch die erzkonservative nordirische DUP eingehen.
2019 ist nicht 2017.
Und die Schweden sind keine Brasilianer, wie der große Fußballphilosoph Franz B. einst tautologisierte. Ein Comeback, wie es Jeremy Corbyn und seine Labour-Partei damals hingelegt haben, ist vermutlich nicht möglich, das stimmt. Aber auch die Konservativen haben große Probleme gegenüber 2017.
Zum Beispiel?
Schottland. Damals haben die Konservativen auch dank ihrer charismatischen Schottlandchefin Ruth Davidson 13 Sitze gewonnen. Die ist nun unter anderem wegen des Streits um den Brexit zurückgetreten. Und das Verhältnis zwischen Boris Johnson und den Schotten muss man sich wie das Verhältnis zwischen Uli Hoeneß und den Fans von Schalke 04 vorstellen: echte Liebe.
Ok, verstehe, also 13 Sitze sind Johnson und seine Partei schon mal los…
… die sie woanders holen müssen, um überhaupt auf die Zahl ihrer momentanen Sitze zu kommen. Doch sie brauchen ja noch deutlich mehr, wenn sie eine komfortable Mehrheit haben wollen.
Klar, aber wenn nationale Umfragen die Konservativen im Schnitt bei 12 Prozentpunkten Vorsprung sehen, dann müssen sie ja irgendwo gegen Labour gewinnen.
Sollte man meinen. Aber das muss nicht sein. Es gibt sowohl Labour- als auch Tory-Wahlkreise, wo die Opposition eigentlich nicht anzutreten braucht. In Liverpool zum Beispiel, wo Labour Sitze mit teilweise mehr als 70 Prozentpunkten Vorsprung gewinnt. Wenn die Konservativen Stimmen in sicheren konservativen Wahlbezirken gewinnen, bringt ihnen das nichts. Wirklich umkämpft sind vermutlich nur 100 bis 150 Sitze von 650. In knapp 100 Wahlbezirken war der Vorsprung des Gewinners bei der letzten Wahl weniger als fünf Prozentpunkte.
Das würde doch reichen, wenn Johnson die gewinnt. Er ist schließlich nun der unangefochtene Mr. Brexit, die Briten haben vom Brexit auch die Schnauze voll, und die meisten der 650 Sitze sind Leave Sitze.
Das stimmt. Weil sich die Remain-Wählerinnen und -Wähler in den Städten konzentrieren, hat in den meisten Wahlbezirken Großbritanniens tatsächlich die Mehrheit für den Brexit gestimmt. Circa zwei Drittel der konservativen Wahlkreise hat für den Brexit gestimmt, und gut die Hälfte der von Labour gewonnenen Stimmbezirke. Allerdings sind die knappen Wahlkreise auch in der Brexit-Frage umkämpft und keineswegs eindeutig. Und dann ist da noch Nigel Farage…
Die Brexit-Partei, natürlich. Es gibt keinen Deal zwischen ihm und Johnson sich gegenseitig zu unterstützen, wenn ich richtig verstanden habe. Also jeder kämpft für sich allein und klaut sich gegenseitig die Stimmen.
Farages politische Karriere wäre mit einem erfolgreichen Brexit beendet. Manche Konservative bereuen schon, ihn nicht gleich zum Lord erhoben und so ins Oberhaus des britischen Parlaments entsorgt zu haben. Denn seine Brexit-Partei steht zwar nur bei elf Prozent. Eine Daumenregel besagt: Für jede Stimme, die Farages Partei von Labour klaut, klaut sie zwei bei den Konservativen. Zudem wird er vermutlich genau in den Stimmbezirken Wahlkampf machen, in denen in Brexit-Fragen vernünftige konservative Kandidaten zur Wahl stehen, um diese dann zu verhindern. Das sind vermutlich auch die umkämpfteren Wahlkreise.
Labour und Liberaldemokraten auf der linken beziehungsweise Remain-Seite arbeiten aber auch nicht zusammen…
Richtig, die LibDems und Labour sind sich nicht grün, und vertreten zum Brexit auch sehr unterschiedliche Positionen. Labour möchte nun ganz offiziell einen weichen Brexit-Deal und ein zweites Referendum, aber vor allem nicht zu viel über den Brexit reden, sondern über andere Themen. Damit könnten sie auch wieder Erfolg haben, denn der Brexit lenkt von wichtigen Themen ab, das spüren die Menschen in Großbritannien. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, den man sich als eine Art Kreuzung zwischen Oskar Lafontaine und Hans-Christian Ströbele vorstellen muss, ist zudem sehr unbeliebt und für die LibDems ein rotes Tuch. Die LibDems wiederum haben erkannt, dass sich ihre Wählerschaft in einem einig ist: Remain. Daher haben sie gesagt, wir blasen den Brexit einfach ab – eine Position, die für Labour zu extrem ist.
Das heißt, die Wahl könnte eng werden.
Die Wahl könnte zumindest sehr viel enger werden als die Umfragen suggerieren. Aber vor allem: Sie ist unvorhersehbar. Zwischen 2010, 2015 und 2017 haben fast die Hälfte der Wählerinnen und Wähler die Partei gewechselt. Das ist enorm viel.
Was ist, wenn Johnson keine Mehrheit bekommt? Sag bitte nicht wir machen dieses Brexit-Theater dann wieder drei Jahre mit.
Was dann ist, weiß keiner. Das ehrlichste wäre ein zweites Referendum, mit Johnsons neuem Deal und Remain als den zwei Optionen auf dem Wahlzettel. Mit einer Niederlage für Johnson könnte das realistisch werden. Realistischer aber ist ein Parlament wie das jetzige: zutiefst zerstritten in der Brexit-Frage und außerstande, sich zu entscheiden. Was aber politisch zumindest die Realität widerspiegelt, denn genauso zerstritten ist das ganze Land.
Christian Odendahl ist Chefvolkswirt des Londoner Centre for European Reform (CER).