Nicht zu beneiden
Es ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt, Chefin der EZB zu werden. Im November übernimmt Christine Lagarde – frühere französische Finanzministerin und bis zuletzt IWF-Chefin – von Mario Draghi den Vorsitz der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Eurozone ist im zweiten Quartal kaum noch gewachsen (0.2 Prozent des BIP), und die Anzeichen für eine weitere Abschwächung sind mittlerweile besorgniserregend. Zwar ist die Stimmung in der europäischen Wirtschaft noch über dem langfristigen Durchschnitt, aber die Industrie klagt über sich leerende Auftragsbücher. Zudem sorgt die außenpolitische Lage, wie der Streit zwischen den USA und China, der Konflikt am Golf und der Brexit weiter für Unsicherheit.
Gerade in Deutschland, dem Vorzeigeland in Sachen Wachstum und Beschäftigung in Europa in den letzten zehn Jahren, stehen die Zeichen auf Abschwung. Im zweiten Quartal ist die Wirtschaftsleistung leicht gesunken, die Geschäftserwartungen haben sich seither weiter eingetrübt, eine Rezession ist wahrscheinlich. Sogar der deutsche Arbeitsmarkt und die bisher starken Dienstleistungen zeigen erste Schwächen, wenn auch auf hohem Niveau.
Das wäre alles weniger bedenklich, wären Zinsen und Inflation auf Normalniveau und hätte die EZB somit die Möglichkeit, mit den üblichen Zinssenkungen der Konjunktur wieder auf die Sprünge zu helfen. Doch sowohl kurzfristige als auch langfristige Marktzinsen stehen mittlerweile unter null Prozent; die Inflation steht bei nur einem Prozent, was auch der Durchschnitt der letzten fünf Jahre ist. Beides sind Anzeichen von andauernder Unterkühlung der europäischen Wirtschaft und einer zu hohen Ersparnisbildung relativ zum Investitionswillen. Mit solchen Daten musste vor Lagarde noch niemand einer möglichen Rezession in Europa gegenüber treten.
Die neue EZB-Chefin muss daher an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen. Die erste Front ist die Geldpolitik, die zunehmend an Grenzen stößt. Mario Draghi hat ihr mit seiner vermutlich letzten geldpolitischen Salve sehr geholfen, indem er die Kritik für eine erneut etwas expansivere Politik auf sich zog und die Bekämpfung des Abschwungs bereits gestartet hat. Aber wenn die Abschwächung der Wirtschaft anhält oder sich sogar verschärft, müsste Lagarde mit weiteren Maßnahmen nachhelfen.
Dabei kämen drei Optionen in Betracht.
Die EZB könnte die Zinsen weiter senken. Die entscheidenden Zinsen der EZB liegen bei null Prozent (der Hauptrefinanzierungssatz, zu dem Banken sich Zentralbankgeld leihen können) bzw. - 0.5 Prozent (der Einlagezins, zu dem Banken Zentralbankgeld bei der EZB deponieren). Das ist niedrig, allerdings liegen die Zinssätze deutscher Staatsanleihen noch darunter. Es ist also denkbar, beide EZB-Sätze weiter zu senken, wie es die schwedische Zentralbank gemacht hat. Dort liegen die vergleichbaren Sätze schon jetzt bei -0.25 Prozent bzw. -1.25 Prozent.
Neben diesen beiden üblichen Zinssätzen setzt die EZB noch einen weiteren. Unter dem sogenannten TLTRO-Programm leiht die EZB Banken langfristig Geld unter der Bedingung, dass diese neue Kredite vergeben. Der Zins ist dabei an die Leitzinsen und die Menge neuer Kredite gekoppelt. Die EZB hat die Bedingungen gerade erst verbessert, aber es wäre möglich, sie noch attraktiver zu machen.
Die Sorge, dass diese Zinssenkungen nichts bringen, ist verständlich, allerdings zeigt sich bisher, dass die Banken die niedrigen Zinsen durchaus in Kreditvereinbarungen an Unternehmen weiter geben, wenn auch nicht mehr vollständig. Über diesen Weg kann also die Kreditvergabe durchaus weiter stimuliert werden. Auch haben niedrigere Zinsen weiter einen dämpfenden Effekt auf den Euro, was Exporteuren hilft (und US-Präsident Trump auf die Palme bringt).
Die EZB könnte zudem weitere Wertpapiere kaufen. Indem die Zentralbank Wertpapiere wie Staats- oder Unternehmensanleihen kauft, drängt sie deren bisherige Besitzer in andere Geldanlagen, z.B. risikoreicher Unternehmensanleihen. Durch die höhere Nachfrage nach diesen sinken wiederum für Unternehmen die Finanzierungskosten für Investitionen. Es wäre sogar denkbar, dass die EZB Aktien kauft, um für Unternehmen die Eigenkapital-Finanzierung günstiger zu machen.
Es gibt ökonomisch keine Grenze bezüglich der Menge an Wertpapieren, die die EZB kaufen könnte. Allerdings gibt es politische. So möchte die EZB nicht Mehrheitseignerin von Staatsanleihen oder große Anteilseignerin von privaten Unternehmen werden. Doch es gibt durchaus Möglichkeiten, solche Probleme zu mindern, z.B. nur Staatsanleihen von Staaten zu kaufen, die sich an Fiskalregeln halten, oder die Aktienbestände in einem eigens dafür aufgelegten Fonds ohne EZB-Beteiligung verwalten zu lassen.
Die EZB könnte sich schließlich für die Zukunft die Hände binden. Es wird zwar in der Öffentlichkeit wenig diskutiert, aber die EZB setzt durch ihre erwartete zukünftige Politik schon heute die Bedingungen für Unternehmen und Investoren. Es ist zum Beispiel schon heute ein Unterschied, ob die EZB in Zukunft einen ökonomischen Boom toleriert (also die Zinsen eher spät erhöht) oder eher vorsichtig agiert, und die Zinsen schon bei ersten Anzeichen von erhöhter Inflation strafft.
Bisher ist die EZB als vorsichtig bekannt. So hat sie 2011, während einer epochalen Krise in der Eurozone, die Zinsen erhöht – obwohl die Quelle der Inflation vermutlich eher außerhalb Europas zu finden war und sich als temporär herausstellte. Auch in 2018, als die Wirtschaft noch gut lief und die Inflation kurzzeitig um 2 Prozent lag, entschied die EZB, die Anleihenkäufe zu beenden, obwohl die Risiken für die Wirtschaft weiter immens waren (wie sich nun zeigt) und die Inflation der letzten fünf Jahre viel zu niedrig war.
Die EZB könnte also klarer machen, dass sie ihre Vorsicht ablegt. Draghi hat in der letzten Sitzung damit angefangen. Die EZB wird nun die Zinsen erst anheben, wenn die Inflation robust und eindeutig bei rund zwei Prozent liegt. Das ist ein Anfang. Lagarde könnte noch weiter gehen, und versprechen, in Zukunft einen kleinen Boom zu tolerieren, um im Schnitt wieder auf zwei Prozent zu kommen. Diese Art aggressiver Kommunikation sorgt dafür, dass Zinssenkungen oder Wertpapierkäufe nicht verpuffen, weil die Unternehmen und Investoren ohnehin erwarten, dass die EZB eine Erholung früh eindämmt.
Die zweite Front für Lagarde ist politisch. Sie muss deutlich klar machen, dass die Stabilisierung der europäischen Wirtschaft ein Zusammenspiel von Geld- und Fiskalpolitik erfordert und dieses im Moment in Europa in deutlicher Schieflage ist.
Wenn Geldpolitik an ihre Grenzen stößt, braucht sie Hilfe in Form von Staaten, die bereit sind, sich zu verschulden und Geld auszugeben, und somit die Wirtschaft zu stimulieren. Das gilt insbesondere für Staaten, die sich für sehr geringe bzw. negative Zinsen verschulden könnten, wie Deutschland. Doch gerade in Europa hat man aus der Fehlinterpretation, die Eurokrise sei eine Schuldenkrise gewesen, den Schluss gezogen, staatliche Ausgabenpolitik stark einzuschränken. In Deutschland hat man mit der „schwarzen Null“ dem Ganzen eine ökonomisch unsinnige und europapolitisch fragwürdige Krone aufgesetzt.
Europas Schuldenregeln sind ebenfalls ungeeignet, diesem Problem zu begegnen: sie begrenzen Defizite, können (und sollten) aber keine höheren Ausgaben vorschreiben. Statt die Schuldenregeln zu ändern, sollte Europa über den Eurozonen-Haushalt neu nachdenken und ihm eine dezidiert stabilisierende Rolle geben. Hier ist Lagarde gefragt, den politischen Widerstand aus Berlin und Den Haag zu brechen.
Die Liste der internationalen Institutionen, die für eine aktivere Rolle der Fiskalpolitik werben, ist mittlerweile lang und reicht vom IWF bis zur OECD. Lagarde muss nicht nur die EZB in diese Liste einreihen. Sie muss auch von Kritikern der EZB-Politik, wie zum Beispiel der Bundesbank, unmissverständlich eine konsistente Position einfordern. Wer die EZB-Politik kritisiert, muss Alternativen aufzeigen. Die Bundesbank müsste daher selbst zur lautstarken Kritikerin der schwarzen Null werden. Lagarde ist um ihren Job wahrlich nicht zu beneiden.