David Camerons EU Reformen – ein Balanceakt für Großbritannien und die Europäische Union
Handlungsempfehlungen
1.Trotz des ungewissen Ausgangs der Volksabstimmung in Großbritannien – EU Mitgliedsstaaten sollten sich bewusst machen, dass der Ausgang ihrer Verhandlungen mit David Camerons Regierung durchaus ausschlaggebend für das Wahlverhalten vieler Briten sein könnte.
2.Cameron muss seine Forderung aufgeben, dass in Zukunft Sozialleistungen für EU-Immigranten, die in Großbritannien arbeiten, vier Jahre lang ausgesetzt werden sollen – eine große Mehrheit der Mitgliedsstaaten wird sich nicht auf diese diskriminierende Maßnahme einlassen.
3.Die Kommission sollte offiziell anerkennen, dass ihr Maßnahmenpaket zur besseren Wettbewerbsfähigkeit auf den Ideen der britischen Regierung aufbaut, und damit Vorschläge Camerons bereits umgesetzt werden.
Zusammenfassung
Diese Woche diskutiert der Europäische Rat die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens und David Camerons Reformvorschläge für die Union. Zu einer Einigung wird es wohl nicht kommen, aber Ratspräsident Donald Tusk wird versuchen, zwischen dem Vereinigten Königreich und den restlichen Mitgliedsstaaten zu vermitteln, um dann im Februar 2016 einen Kompromiss zu erreichen.
Die Forderungen Camerons haben gemischte Reaktionen hervorgerufen. Auf der einen Seite hat keine Regierung Verhandlungen von vorneherein ausgeschlossen, oder alle Vorschläge Großbritanniens grundheraus abgelehnt.
Auf der anderen Seite ist es den Briten aber auch nicht gelungen, Europa davon zu überzeugen, dass die Implementierung des Reformpakets für alle Seiten vorteilhaft wäre. Stattdessen wächst der Unmut über die Anspruchshaltung Camerons.
Camerons Forderungen
Im November 2015 hat die britische Regierung einen lange erwarteten Brief von David Cameron an Donald Tusk, den Präsident des Europäischen Rats, veröffentlicht. Darin erklärt der britische Premier seine Vision einer Europäischen Union, und setzt gleichzeitig die Rahmenbedingungen für das Verbleiben Großbritanniens in der Union. Er geht insbesondere auf fünf Hauptforderungen seiner Reform-Agenda für die EU ein.
I. Wettbewerbsfähigkeit
Premier David Cameron argumentiert, dass die EU ihren Binnenmarkt ausbauen, regulatorische Hindernisse beseitigen, und weitreichende Freihandelsabkommen mit Drittstaaten verabschieden muss, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese Forderungen sind Teil der jahrelangen Bemühungen Großbritanniens, die EU wirtschaftlich zu liberalisieren und für Unternehmen attraktiver zu machen.
Camerons Forderung nach höherer Wettbewerbsfähigkeit der EU ist der am wenigsten problematische Punkt auf seiner Agenda. Die Sorge der Briten, die EU werde ohne Reformen global abgehängt, wird von vielen anderen Staaten geteilt, und ist in der EU Kommission bereits aufgegriffen worden. Jean-Claude Juncker hat mit der Ernennung Frans Timmermans‘ zum Vizepräsidenten der EU Kommission einen wichtigen Schritt hin zu einer wirtschaftsliberaleren EU getan: Timmermans stellte bereits im Mai 2015 sein Maßnahmenpaket zur besseren Rechtsetzung vor, das viele Forderungen Großbritanniens aufgreift.
Solange Cameron glaubwürdig vermitteln kann, dass „bessere Regulierung“ nicht automatisch „De-Regulierung“ bedeutet – er also keine Kampfansage an ein „soziales Europa“ richtet – könnten auch bislang skeptische Staaten überzeugt werden, die besonderen Wert auf Regelungen wie die EU-Arbeitszeitrichtline, Umwelt- und Verbraucherschutzregelungen legen. Die Kommission sollte offiziell anerkennen, dass ihr Maßnahmenpaket zur besseren Wettbewerbsfähigkeit auf den Ideen der britischen Regierung aufbaut, und damit Vorschläge Camerons bereits umgesetzt werden – eine solche Würdigung könnte dem Premierminister helfen, die Kritiker in seiner eigenen Partei zu besänftigen.
II. Stärkung nationaler Parlamente
Die britische Regierung will außerdem den Einfluss nationaler Parlamente auf EU Prozesse vergrößern und das Subsidiaritätsprinzip stärken. Insbesondere soll Abgeordneten der Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gegeben werden, Gesetzesvorschläge der Kommission zu blockieren. Gegenwärtig haben Parlamentarier die Option, mit einer sogenannten ‚gelben Karte’ gegen Initiativen der Kommission vorzugehen, können aber in letzter Instanz überstimmt werden, solange nicht der Ministerrat oder das EU Parlament ihren Einwand unterstützen. David Cameron will nationalen Parlamenten ein Veto-Recht (eine ‚rote Karte‘) gegen Gesetzesvorschläge der Kommission einräumen.
Damit reagiert Großbritannien auf EU-Skeptiker aus den eigenen Reihen, die Brüssel vorwerfen, sich in nationale Angelegenheiten einzumischen, hofft aber gleichzeitig auch, die demokratische Legitimität der Union zu stärken.
Eine Anzahl EU-Staaten hat sich in der Vergangenheit gegen ein nationales Vetorecht ausgesprochen. Dafür existieren unterschiedliche Beweggründe: Staaten sind beunruhigt, dass nationale Abgeordnete mit nur wenig Interesse und geringen Kenntnisse der EU den ohnehin schon mühsamen Entscheidungsprozess der EU weiter erschweren könnten. Viele argumentieren, dass es in der Verantwortung Abgeordneter liege, die Europapolitik ihrer eigenen Regierung zu überwachen, nicht aber den inner-europäischen Prozess. Kleinere Mitgliedsstaaten, die innerhalb supranationaler Organisationen darauf angewiesen sind, dass Kommission und Parlament ein Gegengewicht zu größeren Mitgliedsstaaten bilden, befürchten, dass ihre Position innerhalb der EU geschwächt werden könnte.
Cameron wird daher wahrscheinlich einen Kompromiss eingehen müssen, kann sich aber wohl darauf verlassen, dass Staaten ihm zumindest eine Stärkung des aktuellen ‚gelbe Karte‘-Mechanismus zugestehen. Zum Beispiel könnte Landesparlamenten mehr Zeit gegeben werden, um eine gelbe Karte einzulegen.[2]
III. Integration: (k)eine immer engere Union
Cameron fordert eine ausdrückliche Anerkennung der Tatsache, dass Großbritannien sich nicht an das Prinzip vom ‚immer engeren Zusammenschluss‘ gebunden fühlt, das in der Präambel zu den Europäischen Verträgen festgehalten ist.
Diese Forderung gründet sich auf die Beschwerden britischer EU-Kritiker, dass sich die Union im Laufe der letzten 40 Jahre weit von dem reinen Gemeinsamen Markt entfernt habe, dessen Prinzipien sich das Vereinigte Königreich 1973 anschloss. Sie argumentieren, dass sich der Europäische Gerichtshof in seinen Entscheidungen auf das Prinzip der ‚ever closer union‘ beziehe, und auch das Europäische Parlament versuche, zum Beispiel durch die Einführung eines Spitzenkandidatensystems, eine ‚politische Union‘ durchzusetzen.
Schon 2014 hat die EU auf die Ängste Großbritanniens reagiert, und eine Klausel in die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates eingefügt, die anerkennt, dass die Integration der EU nicht für alle Staaten den gleichen Weg nehmen muss. Die Mehrheit der Mitgliedsstaaten sieht daher wenig, oder nur symbolische Bedeutung in der ‚ever closer union‘, und ist bereit den britischen Forderungen diesbezüglich nachzugeben. Allerdings wird ein Übereinkommen davon abhängen, ob Cameron auf einer Vertragsänderung besteht – in diesem Fall werden viele Regierungen Befürchtungen anmelden, dass andere Mitgliedsstaaten ebenfalls versuchen könnten, ihrerseits Ausnahmen von bestimmten EU Prinzipien durchzusetzen.
IV. Rechte der Nicht-Euroländer
Mit besonderem Nachdruck fordert Cameron des weiteren, dass die Interessen der sogenannten ‚Euro-Outs’ in Zukunft besser gewahrt werden sollen – derjenigen Mitgliedsstaaten also, die den Euro nicht als Währung übernommen haben. Insbesondere verlangt er Garantien, dass das Stärken der Eurozone den Binnenmarkt nicht gefährden darf, und dass Nicht-Euro Länder selbst darüber verfügen dürfen, inwieweit sie an weiteren Integrationsbestrebungen teilnehmen wollen. Gleichzeitig aber behält er sich Einfluss auf Entscheidungen vor, die alle Mitgliedsstaaten betreffen.
Diese sogenannte ‚Fairness Agenda‘ Camerons reflektiert die Sorge der Briten, dass sie als Nicht-Euroland übervorteilt werden könnten. Im Zuge der immer weiter fortschreitenden europäischen Integration verfügen die Mitglieder der Eurozone heute über eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat und könnten theoretisch die Nicht-Euroländer überstimmen. Seit der Entscheidung der Euroländer im Juli 2015, den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) entgegen eine ausdrückliche Abmachung, und gegen den Widerstand Großbritanniens, zur Finanzierung eines Kredits an Griechenland zu verwenden, sieht sich die britische Regierung in ihrer Befürchtung bestätigt.
Die Fairness-Forderung stößt nicht nur auf Gegenliebe – im Gegenteil, viele Mitgliedsstaaten zeigen sich gereizt, dass ein Land, das nicht Mitglied der Eurozone ist, es sich herausnehmen will, die Regeln vorzugeben. Außerdem, so argumentieren sie, seien in Krisensituation, wenn schnelles Handeln der Euroländer notwendig ist, die Interessen der Nicht-Euroländer nun mal Nebensache. Andere EU Staaten, die ebenfalls ihre eigene Währung beibehalten haben, zeigen zwar mehr Verständnis für Cameron, sind aber weniger an juristischen Schutzmechanismen interessiert, als daran, ihren politischen Einfluss auf die Eurozone zu stärken.
Es liegt an der britischen Regierung konkrete Vorschläge zu machen, wie die Rechte der Währungs-Außenseiter gewahrt werden sollen – zum Beispiel durch die Einführung einer ‚Notbremse‘, oder eines ausgeweiteten Beobachterstatus bei Treffen der Eurogruppe.[3] Dann muss Cameron darauf hoffen, dass sich einflussreiche Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Italien, und Frankreich bereit erklären, zu vermitteln – zu groß ist das Interesse, Großbritannien in der EU zu halten, als dass sich diese drei gegen einen Kompromiss verwehren würden.
V. Sozialleistungen für EU-Immigranten
Camerons fünfte Forderung ist bei weitem die umstrittenste. Camerons Partei, unter Druck von rechtskonservativen Stimmen, wie zum Beispiel der europafeindlichen Ukip-Partei, hat ihren Wählern versprochen, EU-Einwanderungsströme einzugrenzen. Erreichen will sie dies durch die Beschränkung der sogenannten „pull-factors“ – wie beispielsweise Arbeitslosenunterstützung für Immigranten, oder Kindergeld für Immigrantenkinder, die außerhalb Großbritanniens leben, und auch das Streichen von Sozialleistungen für Arbeitnehmer aus dem Rest der EU.
Es ist dieser dritte Punkt, der Camerons Verhandlungsgeschick auf eine harte Probe stellt. Denn Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU sieht eindeutig die Abschaffung “jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“ vor. Ein Streichen der Sozialleistungen – also zum Beispiel Steuerfreibeträge und Wohngeld – für Arbeitnehmer hätte zur Folge, dass britische Angestellte für ein- und denselben Job ein höheres Einkommen (inklusive von Sozialleistungen) erhielten als EU-Immigranten, die Regelung ist also klar diskriminierend.[4] Fast alle Regierungen Europas haben auf Camerons Ankündigung mit offener Ablehnung reagiert. Insbesondere Mittel- und Osteuropäische Staaten zeigen wenig Kompromissbereitschaft – viele Polen, Tschechen und Rumänen arbeiten zur Zeit in Großbritannien, und würden direkt unter der neuen Regelung leiden.
Ein Vorschlag, der in Großbritannien Zuspruch gefunden hat, zielt darauf ab, gleichzeitig Sozialleistungen für achtzehn- bis zweiundzwanzigjährige Briten zu streichen. Ein solcher Kompromiss jedoch wäre nur oberflächlich eine Lösung – da Immigranten häufig älter sind als 22 wäre eine solche Regelung letztlich wohl eine de-facto Diskriminierung.[5]
Es ist gut möglich, dass David Cameron Mitstreiter für seine Forderungen bezüglich Kindergeld und Arbeitslosenunterstützung findet. Das Streichen von Sozialleistungen für Arbeitnehmer ist sowohl juristisch als auch politisch keine Option. Selbst nachdem Cameron osteuropäische Regierungen besucht und ausdrücklich für seine Reformen geworben hat, findet diese drastische Maßnahme kaum Unterstützer.[6]
Die Diskussion innerhalb Großbritanniens
In Großbritannien selbst dreht sich die innenpolitische Debatte über die britische EU-Mitgliedschaft vorwiegend um die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Risiken von Immigration auf der einen, und die wirtschaftlichen Vorteile von Freihandel auf der anderen Seite.
Diejenigen, die ein Verbleiben Großbritanniens in der EU fordern, haben starke wirtschaftliche Argumente auf ihrer Seite – Großbritannien kommt als EU-Mitgliedsstaat in den Genuss freien Zugangs zum Gemeinschaftsmarkt und kann sich in Verhandlungen von Handelsabkommen mit Drittstaaten auf die geballte Verhandlungsmacht der EU verlassen. Dem Camp der ‚Brexit‘-Befürworter auf der anderen Seite ist es gelungen, Sorgen der Bevölkerung bezüglich Migration und Grenzsicherheit in ihr Narrativ einzubinden. Viele Beobachter machen heute daher den Ausgang des Referendums am Interesse der Abstimmenden an internationalem Handel und Migration fest.
Die Situation ist dahingehend außergewöhnlich, dass keine klare Frontenteilung zwischen den großen Parteien besteht: Die Konservative Partei ist zwar offiziell den Prinzipien des Freihandels verpflichtet, es werden aber auch die Stimmen derjenigen immer lauter, die EU Regulierung und Rechtsetzung als Belastung und Einmischung in nationale Angelengen wahrnehmen. Die Labour Partei auf der anderen Seite ist skeptisch gegenüber Freihandelsabkommen. Insbesondere unter der Führung Jeremy Corbyns wird die EU immer häufiger als eine Institution dargestellt, die den Interessen der globalen Wirtschaft dient und dafür sozial- und umweltpolitische Prinzipien aufs Spiel setzt. Die Flüchtlingskrise der vergangenen Monate, und die Eurokrise der letzten Jahre haben außerdem zu einem negativen Bild der EU beigetragen.[7]
Viele Parlamentarier und auch Vertreter der Industrie haben sich noch nicht ausdrücklich dazu bekannt, ob sie einen „Brexit“ befürworten und heben sich eine Stellungnahme für den Ausgang der Verhandlungen mit der EU auf. Beobachter sehen eine entscheidende Rolle für Londons Bürgermeister Boris Johnson. Der konservative Politiker, der mit hohen Zustimmungsraten häufig als Premierministerkandidat gehandelt wird, hat bis jetzt noch nicht klar Stellung bezogen. Sollte er sich von Camerons pro-EU Haltung abwenden, könnte es zu einer Spaltung der Konservativen bei der EU-Frage kommen. Das gleiche gilt für Innenministerin Theresa May.
Dies beweist einmal mehr, dass Camerons Verhandlungen mit der EU, trotz der Tatsache, dass sie von vielen Seiten als ‚Farce‘ bezeichnet wurden, von großer Bedeutung für den Ausgang der Volksabstimmung sein könnten.
Ausblick: Die Verhandlungen
Die Verhandlungen über Großbritanniens Mitgliedschaftsstatus in der EU bieten neben vielen Herausforderungen auch eine Gelegenheit für Donald Tusk, sich in seiner Rolle als Vermittler zu beweisen. Letztlich hängt der Ausgang von Grossbritanniens EU-Frage aber davon ab, wie weit Camerons 27 Verhandlungspartner bereit sind, auf ihn zuzukommen.
Der schwer vorhersehbare Ausgang der britischen Volksabstimmung ist ein Risikofaktor für viele europäische Regierungen in den Verhandlungen – selbst wenn sie Cameron nachgeben, ist ein positiver Ausgang der Abstimmung nicht garantiert, und eventuelle Zugeständnisse müssten in Großbritanniens Abwesenheit wieder aufgelöst werden. Außerdem befürchten viele Staaten, dass EU-feindliche Gruppierungen in anderen Mitgliedsstaaten Eingeständnisse an Großbritannien – insbesondere die Aussicht, die EU-Verträge zu überarbeiten – zum Anlass nehmen könnten, ihrerseits selbst Forderungen zu stellen.
Auf Zugeständnisse kann der Premier nur dann hoffen, wenn er einige seiner extremsten Forderungen aufgibt – ein schwieriger Balanceakt unter steigendem innenpolitischen Druck – und zeigen kann, dass seine Forderungen nicht nur Großbritannien, sondern der EU als ganzes nützen.
Sophia Besch is the Clara Marina O'Donnell fellow at the Centre for European Reform.