Briten zum Brexit: Liebe EU-Partner, bitte behandelt Großbritannien mit Nachsicht
Dies ist keine leichte Zeit, Brite beziehungsweise Engländer zu sein. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der das Land von anderen so verachtet worden ist. Der Spott ist völlig gerechtfertigt. Die Brexit-Kampagne vereinte alle negativen Seiten meines Landes: Schamlosigkeit, mürrischen Groll gegenüber Ausländern, die Bevorzugung von Stil gegenüber Substanz und eine Sentimentalität für die mit rosaroter Brille betrachtete Vergangenheit. Wir sind derzeit schwer zu mögen, und die Schadenfreude ist verständlich. Das Land hat sich immer als einen Leuchtturm der politischen Stabilität in Europa betrachtet und war eher großzügig, wenn es um eigene Verfehlungen ging. Aber nun befinden wir uns in ernsthaften Schwierigkeiten. Doch es gibt auch ein ganz anderes Großbritannien, als das, was derzeit international zu bestaunen ist. Damit dieses andere Großbritannien die Oberhand gewinnt, wird es Hilfe von Ihnen benötigen. Das bedeutet, mit einem Land geduldig zu sein, das in letzter Zeit wenig getan hat, um diese Geduld zu verdienen.
Ich verstehe, dass es schwer ist, Verständnis zu zeigen , wenn man mit opportunistischen Politikern wie Boris Johnson oder Michael Gove konfrontiert wird. Auch nach dieser Katastrophe spielt die konservative Partei weiter Parteipolitik, anstatt sich um die Zukunft des Landes zu kümmern. Es besteht die sehr reale Gefahr, dass der Wahlkampf um den Parteivorsitz noch mehr unbegründete Behauptungen über die EU zu Tage fördert, bevor jemand gewählt wird, der oder die einen Weg aus dem Schlamassel findet. Gleichzeitig ist die Labour-Opposition in Chaos versunken und könnte bald auch führungslos dastehen. Es könnte auf Neuwahlen im Herbst hinauslaufen. Kurz gesagt: Dieses Land ist momentan und vermutlich für einige Zeit nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Das Referendum hat die Zerbrechlichkeit der politischen Stabilität des Landes offenbart.
Auch Briten trauern wegen des Brexit-Referendums
Der Drang, Großbritannien zu bestrafen, ist verständlich. Das Referendum hat für Länder in ganz Europa ernste politische Probleme verursacht. Großbritannien ist nicht das einzige Land mit innenpolitischen Zwängen, auch wenn es sich oft so verhält, als sei es das. Aber bitte denken Sie daran, dass fast die Hälfte der Wähler für die EU gestimmt hat - trotz massiver Desinformation durch Politik und Medien - und in einer Zeit, in der auch anderswo in Europa die Unterstützung für die EU schwach ist, nicht nur in Großbritannien. Zudem stimmten die jungen Briten mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib, sowie eine bedeutende Mehrheit der unter 50-jährigen. Diese Altersgruppen sind die Zukunft des Landes.
Für die Millionen von Jungen, die nicht zur Wahl gegangen sind und deren Zukunft nun beschädigt wurde, wirkt das Ergebnis des Referendums als wichtiger Weckruf. Ein solcher wird es auch für die älteren Menschen sein, die für den Austritt gestimmt haben, um ihrer Frustration über die Regierung Luft zu machen, und nicht, weil sie unbedingt die EU verlassen wollten oder überhaupt verstanden haben, was die Folgen sein würden. Angesichts des Ausmaßes an Fremdenfeindlichkeit während und nach dem Wahlkampf erkennen viele Briten Ihr Land nicht wieder. Es gibt unter den Briten echte Trauer über das Ergebnis. Wir mögen nicht immer emotionale Europäer sein, aber für Millionen von uns ist englisch (oder walisisch), britisch und europäisch zu sein ein wichtiger Teil unserer Identität.
Großbritannien braucht keine weiteren Zugeständnisse von der EU, aber es braucht Zeit, um sich zu fangen. Wenn es diese Zeit bekommt, ist es wahrscheinlich, dass die Briten zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine echte, informierte Debatte über die EU führen werden, und darüber was Großbritannien von seiner Mitgliedschaft hat. Es wird für die EU-Gegner nicht mehr möglich sein, zynisch Dinge zu behaupten, die offensichtlich nicht wahr sind. Denn nicht umsonst haben sie alle ihre wichtigsten Versprechen zurückgezogen, mit denen sie das Referendum gewonnen haben, was beweist, dass ihre Kampagne hauptsächlich aus Demagogie bestand. Großbritannien wird zu Recht mit der Wahl zwischen Zugang zum Binnenmarkt und Begrenzung von Zuwanderung aus der EU konfrontiert. Die britischen Politiker, die Zuwanderungsbeschränkungen wollen, müssen die Briten davon überzeugen, dass dies den hohen Preis wert ist, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Bezug auf den massiv verminderten politischen Einfluss Großbritanniens in Europa. Wie Sie wissen, haben die Briten oft dazu geneigt, die politischen Vorteile und Sicherheit der EU-Mitgliedschaft gering zu schätzen - jetzt müssen sie eine ehrlichere Diskussion über den breiteren Nutzen einer EU-Mitgliedschaft führen.
Vielleicht eines Tages zurück in die Europäische Union
Nun, da die Wähler beginnen zu verstehen, wie kostspielig es ist, den Binnenmarkt zu verlassen, und wie sie von einer Brexit-Kampagne in die Irre geführt wurden, die unterschiedlichen Gruppen völlig inkompatible Dinge versprach, ist es schwer vorzustellen, dass keine Mehrheit für einen Verbleib entstehen sollte. Es mag politisch unmöglich sein - es wäre ein weiteres Referendum nötig, wogegen sich britische Politiker sträuben werden, weil es gegen den Willen der Menschen im Referendum gehen würde. Aber es würde die Möglichkeit eröffnen, dass Großbritannien wie Norwegen Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) wird. Und ausgehend davon könnte das Vereinigte Königreich vielleicht eines Tages wieder der EU beitreten. Denn nach einigen Jahren im EWR - in dem sich Großbritannien weiter nach EU-Bestimmungen richten muss, aber nichts zu sagen hat - könnte eine britische EU-Mitgliedschaft auf einmal sehr attraktiv erscheinen.
Wenn den gemäßigten Kräften innerhalb des Landes Zeit gegeben wird, die Oberhand zu gewinnen, könnte ein geläutertes, bescheideneres Großbritannien aus diesem Debakel hervorgehen. Zum Glück scheinen viele von Ihnen bereit, uns diese Zeit zu geben. Das ist sehr großzügig im Fall der osteuropäischen Regierungen, die erschreckende Ressentiments und Rassismus gegenüber Bürgern ihrer Länder in Großbritannien haben erleben müssen. Es bleibt zu hoffen, dass diejenigen unter Ihnen, die glauben, dass Großbritannien in die EU gehört und die EU ohne Großbritannien schwächer ist, die Skeptischeren unter Ihnen überzeugen können, Großbritannien die nötige Zeit zu geben.
Simon Tilford is deputy director at the Centre for European Reform.
This piece is the German translation of a CER insight here.