Brexit: «Wir werden noch zehn Jahre verhandeln»
Charles Grant, Direktor der britischen Denkfabrik «Centre for European Reform», spricht im Interview über die Starrsinnigkeit Brüsseler Juristen, den weiteren Verlauf des Brexits und die Chancen von Boris Johnson als Premierminister.
In der Schweiz wie in Grossbritannien wird die EU oft als dogmatisch wahrgenommen. Wie sehen Sie das?
Charles Grant: Was die Unteilbarkeit des Binnenmarkts angeht, kann man das sicher so sehen. Das liegt daran, dass die Brexit-Verhandlungen von Juristen geführt werden. Die wirtschaftliche Sichtweise, etwa auf Handel und Investitionen, wird vernachlässigt. Auch die möglichen Auswirkungen eines harten Brexits auf die Geopolitik und Sicherheit werden unterschätzt.
Haben Sie das Gefühl, die EU agiert gegenüber dem Vereinigten Königreich bösartig?
Bösartig nicht ehr kompromisslos. Aber aus EU-Sicht ist es nur konsequent, den Binnenmarkt und seine Prinzipien zu verteidigen, es ist ihre grösste Errungenschaft.
Das Austrittsdatum rückt immer näher. Kommt es zu einem Deal?
Die EU will bei der Nordirlandfrage keinen Kompromiss machen. Grossbritannien wird hier aber kaum einknicken. Nordirland in einer Zollunion zu halten, wird als Angriff auf die britische Verfassung gewertet. Die einzige Lösung ist, dass das ganze Vereinigte Königreich in einer Art Zollunion bleibt. Uns selbst wenn Theresa May nachgeben sollte: Am Schluss steht die Frage, ob der Deal durchs britische Parlament geht.
Geht er?
Labour und andere Oppositionsparteien dürften dagegen stimmen. Bis zu 30 Tory-Abgeordnete könnten wegen Nordirland nein sagen. Was dann passiert, weiss niemand. Vielleicht wird Theresa May zu Verhandlungen für einen Soft-Brexit beauftragt, vielleicht gibt es Neuwahlen mit einer Labour-Regierung, vielleicht gibt es eine neue Abstimmung.
Vielleicht gibt es eine Boris Johnson-Regierung?
Boris ist populär, aber gleichzeitig auch sehr unpopulär. Er wird kaum je eine Partei-Abstimmung für sich entscheiden. Die Tories kennen seine Kehrseite, seinen Mangel an Fleiss, die Lügerei und Prinzipienlosigkeit zur Genüge. Aber man weiss ja nie: Er wurde schon oft abgeschrieben.
Klingt alles in allem, als würde der Brexit noch etwas andauern.
Selbst wenn es zu einem Deal kommt, werden die Brexit-Verhandlungen noch zehn Jahre dauern. Es gibt so viel neu zu organisieren.
War der Brexit ein historischer Fehler?
In jedem Fall wird das britische Volk ärmer sein, es wird weniger Geld für Ausbildung, Verteidigung oder was auch immer zur Verfügung stehen. Auch Grossbritanniens Gewicht in der Weltpolitik wird abnehmen. Es ist ein grosser Akt der Selbstbeschädigung.