Es könnte passieren, gleichsam aus Versehen

Opinion piece (Die Presse)
Simon Tilford
09 June 2016

Die Presse: Wenn Sie eine Bilanz ziehen: Wie würden Sie die 43 Jahre Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU bewerten?

Simon Tilford: Es ist schwer zu sagen, was ohne die Mitgliedschaft gewesen wäre. Aber was wir wissen, ist, dass der Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1973 zu einer großen Zunahme des Handels zwischen Großbritannien und Europa geführt hat. Als Großbritannien der Gemeinschaft beitrat, war es kein besonders offenes oder liberales Land, aber die EU-Mitgliedschaft hat uns befreit und heute sehen uns manche als eine Art Mini-USA in Europa. Wenn wir nun austreten, werden wir ärmer und weniger offen sein.

Dennoch scheint es unter den EU-Gegnern eine Bereitschaft zu geben, einen materiellen Schaden in Kauf zu nehmen in Erwartung der Rückkehr zu einer verklärten Vergangenheit.

Das Lager ist nicht homogen: Einige Euroskeptiker sind liberale Globalisierer, andere sind nach innen gekehrte Nationalisten. Wenn Großbritannien Nein zur EU sagt, dann aus ihren Motiven: Diese Menschen wollen weniger Offenheit und sehen Globalisierung und Immigration als Gefahr, nicht als Chance.

Das Ja-Lager setzt vor allem auf das wirtschaftliche Argument für den Verbleib. Aber das scheint nicht recht zu funktionieren.

Wenn man sich die Umfragen genau ansieht, besteht kein Zweifel, dass das Wirtschaftsargument durchdringt. Eine große Mehrheit erwartet, dass ein EU-Austritt negative ökonomische Folgen hätte und sie ärmer machen würde. Zugleich denken die Menschen, dass ihnen ein EU-Austritt dennoch helfen könnte, indem etwa die Zuwanderung kontrolliert würde. Somit wird es fraglich, ob das wirtschaftliche Argument wirklich das entscheidende sein wird.

Einige dieser Argumente sind aber offene Unwahrheiten.

Es gibt eine schockierende Bereitschaft im Brexit-Lager, Fakten einfach zu ignorieren oder Unwahrheiten zu verbreiten. Sie setzen auf den Effekt der Hundepfeife, indem sie Signale an ihre Kernschichten aussenden.

Wer sind diese Schichten? Die Positionen scheinen ja quer durch alle Lager zu gehen.

Der Zeitpunkt für das Referendum könnte nicht schlechter sein. Obwohl die britische Wirtschaft im Vergleich zu Europa recht gut abschneidet, erleben unsere Arbeitnehmer entweder Stagnation oder Verlust an Realeinkommen. Die Arbeitsplätze sind weniger sicher. Sie sind verärgert und haben den Glauben verloren, dass die Regierung ihre Probleme lösen kann. Sie suchen nach Antworten und Schuldigen. Das ist eine fiebrige Atmosphäre für eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in einer nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa zutiefst unbeliebten Institution.

Und dann gibt es noch jene, die dieses Unbehagen schüren.

Tatsächlich erleben wir ein Bündnis zwischen jenen, die es sich leisten können, etwas zu verlieren, mit denen, die nichts zu verlieren haben. Der klassische Nein-Wähler ist ein älterer Bürger mit geringer Ausbildung und Sympathien für die Konservativen. Im Gegensatz dazu ist der klassische Ja-Wähler jung, mit guter Ausbildung.

Was ist dann Ihr Tipp für den Ausgang des Referendums?

Ich glaube, dass die Wahrscheinlichkeit eines Brexit nicht höher als 20 Prozent ist. Aber es könnte passieren, gleichsam aus Versehen.

Welche Rolle spielt die Wahlbeteiligung?

Wenn sie unter 60 Prozent liegt, wird es knapp für das Ja-Lager. Die Mobilisierung ist ein Problem: Viele Wähler denken, das sei nur ein interner Kampf der Konservativen und sie wollen nichts damit zu tun haben.

Wird das Referendum die EU-Frage in Großbritannien entscheiden?

Bei einem engen Ergebnis wird es für Premier David Cameron sehr, sehr schwierig werden. Mit 51 bis 52 Prozent für den Verbleib wird das Thema nicht erledigt sein, und Cameron wird eine offene Revolte zu bekämpfen haben. Wenn er 55 Prozent und mehr erreicht, wird er überleben und stark genug sein, den rechten Flügel seiner Partei zu attackieren. Nach allem, was gesagt wurde an Unwahrheiten und Beleidigungen, wird es aber schwer, die Tories jemals wieder als vereinte Partei zu sehen.

Simon Tilford is deputy director of the Centre for European Reform.